Ich bin so frei, ich bleib zu Hause

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Das Fernweh ist wie andere Schmerzen auch: Man vergisst sie zwar nicht ganz, aber man spürt sie irgendwann kaum noch. Warum soll man denn eigentlich immer verreisen? Unsere Wurzeln sind in diesem vergangenen Jahr stärker im Hier verwachsen. Die Freude an der Natur ringsum, am Garten und im Ried, am Selber-Tun und Entdecken hat auch deutlich zugenommen. Was für ein Privileg, seine Erde selbst umgraben zu dürfen und damit auch noch zur Biodiversität beitragen zu können! Der Landschaftsraum von Lustenau liegt praktisch vollständig in der Landesgrünzone. Freihalteflächen, Ried mit und ohne Hütten, Landwirtschaft, Schrebergärten, Gewässer, Geh- und Radwege – und vor allem größtmöglicher Erholungswert für alle, auch in den zahllosen Privatgärten. Darum beneiden uns alle Städter von Bregenz bis Wien. Aber das Wichtigste ist: Der Naturraum vor der eigenen Haustür ist Heimat im besten Sinn des Wortes. Dort, wo ich mich blind auskenne, wo meine Kinder spielend aufwachsen, wo ich meine Sorgen zu Fuß hintrage oder meine Grompra anbaue – das ist Heimat. Und da bleiben wir auch im Urlaub gern.

Im Ried bei Kurt

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Kurt genießt den sonnigen Freitagnachmittag in seinem Riedstück. Vor acht Jahren hat er es von einer Cousine über nommen, und die davor vom Großvater. Drei Generationen werkeln nun schon auf diesem Boden, und alle haben ein kleines Stück zum Paradies hin beigetragen. Früher, so erzählt uns Kurt, sind die Leute zum Schollenstechen ins Ried gegangen, Heizmaterial für die einfachen Leute war das. Und dann wurden Grompra angebaut, damit man die kinderreichen Familien durch den Winter brachte. Höckarli, Spitzöhla und Krüchara, allesamt aus der Bohnenfamilie, werden nach wie vor angebaut, teils an elaborierten Gestängen zu luftiger Höhe gezogen. Neuerdings kommen zu den Kartoffeln, Bohnen und Tomaten vielerorts auch Spargelbeete und anderes neumodisches Gemüse dazu. Tradition hat auch bei Kurt der Riedspaziergang mit der Frau und der anschließende Briend (am ehesten mit deftiger Jause zu übersetzen) am Tisch vor der Riedhütte. Freitags traditionell mit frischem Lustenauer Käsfladen, dem Dönnala. Auf die Frage, wie denn der Gebrauch der Riedstücke reglementiert sei, reagiert man erstaunt: Wieso Regeln? „Alle wänd a Ruoh ha“. Anarchie kommt trotzdem nicht auf – Ruhe, Gelassenheit und ein bisschen rechtsfreier Raum, das ist das Wichtigste am Riedleben. 828 gezählte Riedhütten (und etliche mehr, die noch nicht erfasst wurden) bilden ein einzigartiges, vielfältiges Konglomerat aus Anbauflächen für den Hausgebrauch, Kleintiergehegen und Freizeitdomizilen. Die Besitzer derselben zeigen ihre Geschmäcker teils recht unterschiedlich. Von funktionalen und windschiefen Geräteschuppen (der eigentliche Sinn der Hütten) bis richtiggehenden Kleingartenvillen mit Komfort und Kitsch ist alles dabei. Jeder Versuch, den Wildwuchs etwas einzugrenzen, ist bisher an noch nicht überwindbare Bretterwände gestoßen.


Ried kann aber auch anders. Als Europaschutzgebiet zum Beispiel im Bereich Obere Mähder und Gsieg auf 7 ha. Das unscheinbare Schutzgebiet beherbergt unter anderem mehr als 500 Schmetterlinge, ein Drittel aller in Vorarlberg vorkommenden Orchideenarten, 350 verschiedene Blütenpflanzen und Gräser, 42 Libellen- und mehr als 400 Käferarten. Schon mit der Beobachtung des Getiers könnte man einen ganzen Sommerurlaub zubringen, ohne eine Sekunde Langeweile. Aber das ist eine andere Geschichte. Individualität wird in Lustenau überhaupt groß geschrieben. Nicht nur im (teilweise) geordneten Bereich der Riedstücke und Schrebergärten. Auch die Privatgärten sind Individualparadiese. Gartenflächen bilden gerade in Ballungsräumen ein locker verbundenes Biotop mit großer Artenvielfalt. Vom Nutzgarten bis zum exotischen Wasserpark ist alles dabei.

Im Garten bei Heubi

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Schon an der Pforte zu Heubis Garten ist klar: das ist kein hundsnormaler Bauerngarten, und auch kein Schöner-Wohnen-Garten aus dem Magazin. Heubi hat eine Leidenschaft, und die schon seit 50 Jahren. Er sammelt, pflegt, vermehrt und züchtet Rhododendren und Azaleen. Und die blühen und gedeihen ganz prächtig von März bis Juni. Heubi lebt schon immer, also 81 Jahre hier, seit 60 Jahren geht er in den Garten, zunächst mit Oma und Mama in den üblichen Nutzgarten mit Obstbäumen und Gemüse. Irgendwann ist er ganz zufällig auf die deutsche Rhododendron-Gesellschaft gestoßen und hat sich infiziert mit dem Virus der blühenden Gehölze. Nach und nach hat er den Garten umgestaltet zu einem kleinen Blühparadies. Diese Leidenschaft hat ihn schon in ganz Europa in wundervolle Gärten und Baumschulen geführt. Immer zusammen mit seinem besten Freund, der aber nun leider im Vorjahr verstorben ist.

Bei genauerem Hinsehen hat Heubis Garten aber noch viel mehr Gehölze zu bieten. Da stehen Blumenhartriegel, Schneeflockenbäume und Hamamelis ebenso wie zahlreiche Ilex, also Stechloub, wie man hier sagt. Letztere haben eine wichtige Funktion: Mit ihren Beeren bringen sie Amseln in den Garten, und die halten die Schädlinge an den Stars des Gartens, den wunderbaren Azaleen, fern. Gift spritzt Heubi schon lange keins mehr. Schon weil in seinem Garten „viererlei Hummeln“ zu Hause sind und zahllose Bienen Nektar und Pollen sammeln. Bei Jazzklängen aus dem offenen Fenster könnte man Heubi stundenlang zuhören, wenn er von seinen Reisen und seinen Pflanzen erzählt.

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