Ich seh‘ etwas, was du nicht siehst!

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Mikroabenteuer nennt sich das und hat Hochsaison in Zeiten wie diesen: Statt zum Flughafen und nach Übersee, Rucksack packen, zur Haustür raus und das Große im Kleinen entdecken. Sich dem Spiel des inneren Kindes hingeben und die Welt schauen, als wär’s das erste Mal. So ziehen wir also in Richtung Alter Rhein, Kamera und Notizblock im Gepäck. Und werden bereits erwartet. Virtuos schmettern uns Amsel, Drossel, Fink und Star und die ganze Vogelschar ihre Gesänge entgegen. Der Vogelkundige würde jetzt den lauthals trillernden Kleiber („wiwiwi“) vom Girlitz („zr-r-rilitt“) heraushören und den prächtigen Buchfink am charakteristischen „Zizizizjazjazoritiu-zip“ erkennen. Da und dort leises Plätschern, Rascheln und Knacken, unterlegt von eifrigem Dauergezirpe und Gesummse: meditative „Rheinlauf-Sounds“ – orchestriert von der Natur. Unplugged. Eintritt frei.

Platzverweis für die Krähen

Nicht umsonst gilt der Alte Rhein als Eldorado für alle Ornitholog:innen. Von ihnen erfahren wir, dass hier auch Durchzügler gerne Station machen. Mitunter ließen sich Seltenheiten wie Kolben- und Tafelenten, Baumfalken und Flussseeschwalben beobachten. „Der Alte Rhein dient vielen Vogelarten als wertvoller Brut- und Nahrungsraum. Seit unserer Vereinsgründung 1978 haben wir bereits über 140 Arten beringt und beobachtet“, so Werner König, neuer Obmann des Vereins „Die Drossel“ in Lustenau – seines Zeichens einziger Ornithologischer Verein Österreichs. Notabene: Dank dessen Namensgeberin, der Wacholderdrossel, kann man sogar auf der viel besuchten Liegewiese am Alten Rhein dem Gezwitscher des ansonsten scheuen Gelbspötters lauschen. Die Drossel vertreibt die Krähen so vehement, dass davon auch der kleine gelbbauchige Singvogel profitiert. So traut er sich, im Gebüsch gleich nebenan sein Nest zu bauen.

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Der Alte Rhein: Vertrautes Terrain oder doch ein Stück weit Abenteuerland? Gibt’s hier etwa Froschkönige? Glückspilze? Luftikusse? Was siehst du, was ich nicht seh‘? Und kann mir endlich jemand sagen: Wo haust bitte dieser Biber? Über einen Nachtaktiven unter nackt Aktiven und weitere wunderliche Begegnungen.

Allen Unkenrufen zum Trotz

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Eines ist uns bewusst: Man müsste schon ein Glückspilz sein, um einen Blick auf den pfeilschnellen, tiefblauen Eisvogel zu erhaschen. Oder den Pirol, der Ende April aus seinem afrikanischen Winterquartier zurückkehrt und bis August bleibt. Trotz karibischem Federkleid wird er nur selten gesichtet. Auch uns ist’s nicht vergönnt. Dafür begegnen wir altvertrauten Bewohner:innen wie Familie Schwan und der vor rund zehn Jahren aus holländischen Volieren entflohenen, hier heimisch gewordenen, Nilgans. Ferner erspähen wir wie auf einem Suchbild einen Baumläufer, der sich bestens getarnt kaum von der Baumrinde abhebt. Dann plötzlich doch noch Glückspilz-Alarm – wenn auch ganz anderer Art: Direkt vor unsere Augen posiert ein prächtiges Exemplar einer – wohl ausgesetzten – Schmuckschildkröte. Und nur wenig später ein mittlerweile selten anzutreffendes „Gurrömändli“ – die Gelbbauchunke ist normalerweise für Fotosessions nicht zu haben. Im Hinterland des Alten Rheins beheimatet das sogenannte Seelachengebiet mit seinen Tümpeln und Flachwasserteichen – ebenfalls gehegt und gepflegt vom Ornithologischen Verein – eine Vielzahl an Amphibien, Reptilien und Insekten. Teilweise versteckt im Schilf ist jede dieser Kleinoasen ein Refugium für Froschkönige, Mini-Drachen und Luftikusse. Als eines der prachtvollsten Exemplare der Lüfte bzw. der rund 20 Libellenarten im Altrheingebiet präsentiert sich uns die Königslibelle. Zeigt sie in der Entpuppungsphase noch wenig Haute-Couture-Allüren, könnte ihr späteres, schillerndes Kleid von Vivienne Westwood persönlich entworfen sein!

Dem Biber auf den Fersen

_O1A6216 Seit 2006 wieder da: der Biber.

Und dann fühlen wir noch jemandem auf den Pelz, der nach 350 Jahren Abwesenheit wieder regelmäßig durch die Rhein-Gewässer zieht und unübersehbar seine Spuren hinterlässt: Der Biber ist wieder da. „Der Biber“, das sind ungefähr 180 bis 200 Exemplare in Vorarlberg. 2006 wurden am Alten Rhein die ersten Biberspuren entdeckt. Der mäandernde Flusslauf ist für die Biberfamilien, was für Janoschs Bär und Tiger Panama bedeutet: das Land ihrer Träume. Dennoch lassen sie sich hier nicht gerne blicken. Agnes Steininger, Biberbeauftragte des Landes, lädt uns deshalb zu einer kleinen Spritztour Richtung Bodensee ein. Treffpunkt: FKK-Strand Fußach um 6:00 Uhr in der Früh. Das Fernglas in der Hand, liegen wir allerdings nicht den Adams und Evas auf der Lauer als vielmehr der Spezies „Castor fiber“. Vorerst leider vergebens. Mit nackten Fakten können wir dennoch dienen: Bis zu 135 cm lang wird der Europäische Biber, rund 30 kg bringt er auf die Waage und kann ein Alter von 14 Jahren erreichen. Er ist nachtaktiv, kurzsichtig und farbenblind, hört und riecht aber umso besser. Sein Ruf als Baumeister eilt ihm voraus: im Uferbereich gräbt er sich meist einen sogenannten „Mittelbau“ direkt in die Erde hinein und isoliert die Luke oberhalb mit Ästen und Schlamm. „Freistehende Biberburgen aus reinem Astmaterial sind bei uns selten“, weiß Agnes. Generell seien Biberbauten gar nicht einfach zu entdecken, weil die Eingänge immer unter Wasser lägen. Wenn ein Bach zu wenig Wasser führt, wird ein Staudamm gebaut. „Das schafft ganz nebenbei auch Tieren wie der Ringelnatter und dem Eisvogel neue Lebensräume. Einzig der Mensch findet das nicht immer so gut“, so die Biberbeauftragte. Auch die vielen gefällten Bäume gehen auf das Konto der Biber, die sich mit Hilfe ihrer vier orangenen Schneidezähne brachial Zugang zu den oberen Knospen verschaffen. „Für das Ökosystem ist auch das kein Problem, im Gegenteil. Neue Strukturen befördern die Artenvielfalt“.

Sie sind manchmal gar nicht so scheu. Es gibt Spaziergänger, die immer wieder demselben Biber begegnen.

Familienbande

„Biber leben im Familienverband und dabei sind auch die größeren Jungen Babysitter für die Kleineren. Nach zwei Jahren werden sie allerdings ziemlich rigide hinausgeworfen und müssen sich ein neues Revier suchen. Dabei ist es schon vorgekommen, dass sich einer einen Gartenteich ausgesucht hat“, erzählt uns Agnes. Natürlich müsse man in so einem Fall eingreifen. Ansonsten sei Einmischung aber nicht erlaubt. Schon gar nicht, was das Füttern angeht. Apropos: Biber sind reine Vegetarier. Neben den erwähnten Knospen stehen Kräuter, Gräser und Rinden am Speiseplan. Fressfeinde haben sie hierzulande keine. Beziehungsweise: Der Mensch war es, der ihn vor 350 Jahren ausgerottet hat. Fell und Fleisch waren begehrte Beute. Heute steht er unter Schutz. Biber werden inzwischen von der Grenze zu Liechtenstein bis nach Hörbranz und in den Bregenzerwald gesichtet. „Sie sind manchmal gar nicht so scheu, es gibt Spaziergänger, die immer wieder demselben Biber begegnen. Im Grunde sind sie sogar sehr neugierig, bleiben aber auf Abstand ...“ Agnes hält inne und deutet vielversprechend nach vorne. Wer sieht hier was, was ich nicht seh‘? Da. Fast geräuschlos erscheint plötzlich ein pelziges Etwas an der Wasseroberfläche. Endlich.